Als George Orwell 1950 starb, waren nicht einmal tausend Exemplare von Mein Katalonien (1938) verkauft worden. Das Interesse an dem Buch war anfangs sehr gering, da die linken Medien und Gruppen Orwell als „Verräter“ ansahen, weil er die antistalinistische katalanische Partit Obrer d’Unificació Marxista (POUM) offen unterstützte. Selbst sein Verleger Victor Gollancz lehnte das Buch ab.
Nach Orwells Tod wurde Mein Katalonien nicht nur populär, sondern entwickelte sich von Memoiren zu einem Buch, das für den Spanischen Bürgerkrieg repräsentativ ist. Dies führte dazu, dass Historiker•innen das Buch aufgrund dessen verzerrter Sicht auf die tatsächlichen Ereignisse und deren Relevanz kritisierten.
Die britische Historikerin Helen Graham sagt, dass Orwell „die Rolle der katalanischen und spanischen Kommunisten übertreibt“, wenn es um die Maiunruhen in Barcelona geht. Es gibt in der Tat zwei große Probleme bei Mein Katalonien: mangelndes Wissen und Subjektivität.
Orwell ist nicht Orwell
Monteath geht sogar noch weiter und stellt fest, dass „[a]uch wenn man dieser Figur den Namen ‚Orwell‘ gibt, man nicht davon ausgehen kann, dass dieser Orwell mit dem Autor Orwell identisch ist“. Jene These wird durch die Tatsache gestützt, dass er während des Krieges seinen bürgerlichen Namen Eric Blair verwendete.
Es ist schwierig, Autor und Protagonist zu trennen, da der Autor Orwell später Bücher über den Spanienkonflikt rezensierte und diesen ebenso in entsprechenden Essays kommentierte – auch nach Kriegsende. Am bekanntesten sind Spilling the Spanish Beans (1937) und Looking Back on the Spanish War (ca. 1942). Obwohl Orwell an seiner These festhielt, die Kommunist•innen seien die konterrevolutionäre Kraft, gab er in einem Brief an Frank Jellinek zu:
"Eigentlich habe ich die 'Linie' der P.O.U.M. sympathischer dargestellt, als ich sie empfunden habe, denn ich habe ihnen immer gesagt, dass sie im Unrecht sind, und mich geweigert, der Partei beizutreten. Aber ich musste sie so sympathisch wie möglich darstellen, weil sie in der kapitalistischen Presse kein Gehör fand und in der linken Presse nur Verleumdungen."
George Orwell
Dies zeigt einmal mehr, dass eine Unterscheidung zwischen dem Autor Orwell und dem Protagonisten in Mein Katalonien notwendig ist, trotz der unvermeidlichen Überschneidungen zwischen den beiden Personen.
Eine komplexe Persönlichkeit
Ein häufiger Vorwurf lautet, Orwell sei naiv gewesen – eine Behauptung, die weithin bestritten wird. „George Orwell hat die Politik ernst genommen“, sagt der Soziologe David N. Smith. Außerdem sagt der sozialistische Historiker John Newsinger, dass „Orwell […] immer ein ‚work in progress‘ war. Seine Ideen und Haltungen entwickelten sich ständig weiter und veränderten sich“. Das bedeutet, dass Mein Katalonien nur verstanden werden kann, wenn man es in den Kontext seiner Zeit stellt.
Orwell interessierte sich für die linke Politik und ihre Themen. Sein Buch Der Weg nach Wigan Pier (1937) ist eine soziologische Bewertung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter•innen in Nordengland. Es wurde veröffentlicht, als er sich in Spanien aufhielt.
"Cocksure Partisan"
Der britische Historiker Paul Preston kritisiert, dass die „politische Analyse und die Vorhersagen durch seine Akzeptanz der parteiischen Ansichten der anarchistischen und POUM-Genossen sowie durch seine Unkenntnis des weiteren Kontextes zutiefst fehlerhaft sind“. Dies wird in dem bereits erwähnten Essay Spilling the Spanish Beans deutlich. Kurz nachdem er den Kommunist•innen in Spanien entkommen konnte, schreibt Orwell:
"[I]m Angesicht eines so krassen Reaktionärs wie Franco entsteht für eine Weile eine Situation, in der Arbeiter und Bourgeois, in Wirklichkeit Todfeinde, Seite an Seite kämpfen. Dieses unbehagliche Bündnis ist als Volksfront bekannt [...]. Es ist eine Kombination mit ungefähr so viel Lebenskraft und ungefähr so viel Existenzberechtigung wie ein Schwein mit zwei Köpfen [...]."
George Orwell
Was Paul Preston beunruhigt, ist der Einfluss, den Mein Katalonien auf das Verständnis des Spanischen Bürgerkriegs hat. Orwell kam Ende Dezember 1936 in Barcelona an und verließ Spanien im Juni 1937. Seine Erfahrungen sind nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich begrenzt. Das Buch dreht sich um Barcelona und die Aragonienfront. Was dort geschah, unterscheidet sich stark von den Ereignissen in Andalusien oder im Baskenland.
Eine andere Sichtweise
Vielleicht müssen wir Mein Katalonien auf eine andere Weise betrachten. Es ist nicht so sehr ein Buch über den Spanischen Bürgerkrieg, sondern eine Geschichte, die sich lediglich während dieses Krieges abspielt. Obwohl Orwells Erfahrungen unweigerlich mit den Ereignissen in Spanien zu dieser Zeit verbunden sind, haben die Botschaften, die er vermittelt, eine größere und universelle Bedeutung.
Die „objektive Wahrheit“ kann leicht durch Lügen und Propaganda unterdrückt werden. Was gestern richtig war, ist heute falsch. „So etwas macht mir Angst“, gesteht Orwell, denn „diese Lügen […] werden in die Geschichte eingehen“. Hier zeigt sich die eigentliche Stärke des Buches: seine Aktualität und Mehrdeutigkeit.
Es ist ein leichtes durch eine Umdeutung der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft ideologisch zu formen. Auch hier lohnt ein Blick nach Spanien: Die politische Rechte und große Teile der Gesellschaft halten an dem von den Franquist•innen gezeichnten Bild der spanischen Republik fest. Der spanische Republikanismus, ursprünglich ein Projekt liberaler Intellektueller, ist heute dank rechter Propaganda ein Synonym für Kommunismus.
Wie in der Einleitung erwähnt, verkaufte sich Mein Katalonien nicht gut. Erst 1952, auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära, wurde das Buch in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Es überrascht nicht, dass es als eine Verurteilung des Kommunismus gefeiert wurde. Während der Studentenbewegung in den 1960er Jahren und Ereignissen wie dem Prager Frühling las die Neue Linke Orwell vor allem als Revolutionär und Antistalinisten.
Die Fabel Farm der Tiere (1945) und der dystopische Roman 1984 (1949) verstärkten diese Vorstellungen noch. Beide Bücher waren stark von Orwells Erfahrungen in Spanien beeinflusst, vor allem von seiner Besessenheit der „Wahrheit“ (schließlich gibt es in 1984 ein Wahrheitsministerium). Alles begann jedoch mit Mein Katalonien und mit echtem Horror und Terror, wie Stephen Spender in World Review zu Recht bemerkte.
Literatur
David N. Smith. “The Political George Orwell.” Jacobin Magazin, June 25, 2018.
Gabriel Jackson. Spanish Republic and the Civil War 1931–1939. Princeton, 1965.
George Orwell. Orwell in Spain. 2001.
Helen Graham. The Spanish Civil War: A Very Short Introduction. Vol. 123. Oxford, 2005.
John Newsinger. Hope Lies in the Proles. George Orwell and the Left. London, 2018.
Paul Preston. “Lights and Shadows in George Orwell’s Homage to Catalonia.” Bulletin of Spanish Studies, 2017, 1–29.
Peter Monteath. Writing the Good Fight: Political Commitment in the International Literature of the Spanish Civil War. 1994.
Tom Buchanan. “Three Lives of Homage to Catalonia.” The Library 3, no. 3 (2002): 302–14.