Russischer Widerstand mit Alpenpanorama

Zum heutigen Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine demonstrieren viele Menschen gegen Putin und sein Regime. Die Künstlerinnen von Pussy Riot haben dies bereits vor zehn Jahren getan. Letztes Jahr traten sie in Bayern auf.
In ihrer Performance richtete sich Pussy Riot gegen Putins Regime und stand für Freiheit, Toleranz und Demokratie ein.
Foto: Sabrina Teifel

Es ist ein lauer Sommerabend im Festsaal eines kleinen Dorfes am Rande der Chiemgauer Alpen. Das Kruzifix an der Wand wirkt bizarr im Stroboskop Gewitter zu den Klängen des Sets von DJ Hell. Als der Saal gut gefüllt ist, betritt die regionale Grunge- und Rockband „Rabula Tasa“ die Bühne. Doch bevor sie loslegen, richtet der Sänger und Gitarrist Philip Schulz sich an das Publikum und erklärt, dass sie alle heute aus einem größeren Grund hier sind, als nur um Musik zu spielen und zu feiern.

Es geht um das Einstehen für gemeinsame, demokratische und humanistische Werte, Toleranz und Zusammenhalt gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine. Nicht nur musikalisch, auch politisch stellt sich die Band an die Seite von „Pussy Riot“, für die sie heute die Stimmung anheizen dürfen. An uns alle richtet er die Frage, ob auch wir mutig genug wären, aufzustehen und etwas zu sagen, müssten wir mit Bestrafung und Sanktionen rechnen. Und wenn ja, würden wir es wirklich laut genug sagen, so dass es auch alle hören würden?

Mascha, Katja und Nadja von „Pussy Riot“ sind laut. Laut, stark und weiblich. Und genau das wurde ihnen zum Verhängnis, während es ihnen gleichzeitig internationales Gehör verschaffte – bis ins südöstliche Oberbayern.

Ein Rückblick auf die Ereignisse

Moskau, den 21. Februar 2012. 

In der Christ-Erlöser-Kathedrale, die von Frauen nicht betreten werden darf (von unverheirateten schon gar nicht), bahnt sich ein Skandal an, der um die Welt gehen wird

Fünf junge Frauen in grellen und kurzen Klamotten betreten die Kirche und haben außer ihren Gitarren auch eine Menge Wut im Gepäck. Wut auf die Kirche, die sich eigennützig mit dem Staat verbündet hat. Wut auf das Patriarchat und vor allem Wut auf den Mann, der in Russland das Sagen hat: Wladimir Putin.

Sie tanzen wild und schreien dabei ihr Lied durch die Kathedrale. Ein Lied, das die Jungfrau Maria im Refrain dazu aufruft, Feministin zu werden und dessen erste Strophe lautet:

„Jungfrau Maria, heilige Mutter Gottes, 

räum Putin aus dem Weg

räum Putin aus dem Weg, räum Putin aus dem Weg!“

Dass diese gewagte Aktion keine Begeisterung ernten wird, haben die Beteiligten sicher bereits im Vorfeld geahnt, doch mit dem, was dann passiert, hatte keine von ihnen gerechnet. Zwar fand zu diesem Zeitpunkt kein Gottesdienst in der Kathedrale statt, doch gingen Gläubige in der Kirche ihrer Arbeit nach, von denen einige später vor Gericht aussagen werden, dieses Ereignis hätte sie nicht nur gekränkt und beleidigt, sondern sogar traumatisiert.

Es beginnt eine zermürbende Zeit im Gefängnis, doch die jungen Frauen lassen sich nicht so einfach brechen. „Wie auch immer das Urteil über Pussy Riot ausfällt, wir haben schon gewonnen. Weil wir gelernt haben, wie man politisch wütend und lautstark ist“, schreibt Nadeschda Tolokonnikowa am 16. August 2012 in einem Brief aus dem Gefängnis.

Die Suche nach dem Vergehen

Im Vorfeld der Veranstaltung hatte ich das Buch „Ein Punk-Gebet für Freiheit“ aus dem Edition Nautilus Verlag gelesen, die deutsche Übersetzung von „PUSSY RIOT! A PUNK PRAYER FOR FREEDOM“, das im September 2012 bei The Feminist Press at the City University of New York erschienen war. Außer einigen Songtexten und dem ein oder anderen Gedicht enthält dieses Buch Briefe von Maria und Nadeschda aus dem Gefängnis, die Eingangserklärungen der beiden Angeklagten, Protokolle aus den mehrtägigen Gerichtsverhandlungen, die Schlussplädoplädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, so wie die Schlusswörter der Beschuldigten.

Gerade diese Berichte aus dem Prozess, der den beiden Frauen von Pussy Riot gemacht wurde, sind für Außenstehende, wie uns hier im Westen sehr hilfreich, um das Ausmaß der Situation zumindest halbwegs nachvollziehen zu können. Denn hierzulande wäre eine solche Protestaktion in einer Kirche zwar vermutlich auch alles andere als gern gesehen, würde für die Beteiligten aber sicher nicht in einer mehrjährigen Gefängnisstrafe enden. Tatsächlich sieht aber auch die Gesetzeslage in Russland in dem, was passiert ist, maximal eine Ordnungswidrigkeit. Erst ein Konstrukt aus religiösen Regeln gepaart mit juristischer Kreativität machen aus der Angelegenheit ein Strafverfahren, in dem schon allein der Feminismus selbst ein Vergehen sein soll. 

Außerdem gewähren diese Aufzeichnungen einen tiefen Einblick in die Abgründe des Regimes unter Putin und zeigen auf, wie sehr dieser Fall das gesamte Rechtssystem Russlands ad absurdum geführt hat. Abschließend ist der Skandal um „Pussy Riot“, der durch sämtliche internationale Medien geht und eine Welle der Solidarität auslöst, auf ganzer Linie ein Eigentor für den Kreml, zieht er doch die geballte Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit einmal mehr auf das Regime, dessen Menschenverachtung und Korruption.

Widerstand am Alpenrand

Der Saal tobt, als die Künstlerinnen von „Pussy Riot“ maskiert auf die Bühne stürmen, doch diejenigen, die den Flyer nicht richtig gelesen haben, werden gleich eine herbe Enttäuschung erleben. Schon im Vorfeld war aus den Gesprächen herauszuhören, dass sich viele ein krachendes Punk-Konzert erhoffen – doch das gibt es hier heute nicht. Die gespannte Menge erwartet heute eine künstlerische Performance von Maria “Masha” Alyokhinas Buch „Riot Days“, die im Interview mit der NZZ sagt: „Die Kunstszene ist in Russland etwas anders strukturiert als im Westen. In Putins Russland kann man der Macht entweder zudienen, indem man ihre Institutionen künstlerisch dekoriert. Oder man nutzt die Kunst als Mittel des Protests. Dazwischen gibt es nichts.“

Das Kunstkollektiv steht mit Mikrofonen und nur wenigen, elektronischen Instrumenten auf der Bühne. Die Sängerin sprechen laut, emotional und schnell auf Russisch den Text, der im Hintergrund auf einer Leinwand mitläuft. Doch es sind die ebenfalls auf der Leinwand laufenden Bilder, die einen fesseln. Viele davon zeigen Videos von Protesten, Demonstrationen, immer wieder sieht man grobe Festnahmen, Polizeigewalt, Straflager.

Das Buch „Riot Days“ und somit auch die daraus entstandene Performance erzählen die ganze Geschichte. Vom Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale, über die darauffolgende Hetzjagd sowie den rechtlich mehr als fragwürdigen Prozess bis zur Lagerhaft und bringt dabei schonungslos die strukturelle Erniedrigung ans Tageslicht, die in den Strafkolonien allgegenwärtig ist.

Zwischendurch ändert sich immer wieder die Zusammensetzung und die Rollenverteilung auf der Bühne, es gibt mehrere Outfitwechsel, die meiste Zeit ist alles bunt, laut, schrill, manchmal auch aufreizend und vulgär. Eben genauso, dass es Putin und Seinesgleichen alles andere als gut heißen könnten.

Die Gruppe macht mit ihrem energiegeladenen Auftritt einmal mehr deutlich: Aufgeben ist für sie keine Option. Auch abseits der Show zeigt sich die Stärke der Frauen, die zum Teil bis kurz vor dem Auftritt telefonischen Kontakt mit ihren Familien zu Hause haben. Nahestehende, geliebte Menschen, von denen sie nun, da die Situation mit dem Angriff auf die Ukraine eskaliert ist, nicht wissen, ob und wann sie sich wiedersehen werden. Doch ganz gleich, wie groß die Sorgen sind, wie viele Tränen fließen – es geht raus auf die Bühne. Denn es sind auch die Daheimgebliebenen, für die sie weiterhin um Aufmerksamkeit und Unterstützung für die Missstände in ihrem Heimatland kämpfen.

Konzert von Pussy Riot

Zu wenig Party, zu viel Protest

Das Publikum ist inzwischen ruhig geworden. Manche haben den Saal bereits verlassen. Als auch wir uns an der Bar vor dem Saal Getränke holen, hören wir unweigerlich – leider größtenteils recht mürrische – Gespräche anderer Besucher•innen. Das erwartete Punk-Konzert findet nicht statt, zum Pogen ist die Musik, mit der die Performance begleitet wird, nicht geeignet und überhaupt zieht einen das Programm ja ganz schön runter. Die Ernsthaftigkeit des Abendprogramms war im Vorfeld wohl den Wenigsten bewusst.

An der breiten Enttäuschung lässt sich leider feststellen, dass es den meisten Leuten an diesem Abend augenscheinlich hauptsächlich um Party, um Alkohol und um die Sensation, dass diese Skandal-„Band“ in einem oberbayerischen Gemeinde-Festsaal auftritt, ging und weniger um den (politischen) Inhalt.

Die Frage ist in diesem Fall also nicht, ob der Auftritt dem Publikum gerecht wurde, sondern die Frage ist: Wurde das Publikum dem Auftritt, dem Anliegen, dem erbitterten Kampf dieser mutigen Frauen gerecht??

ist Chefredakteurin bei Alerta und seit ihrer Jugend politisch aktiv. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte reichen von der deutschen Vergangenheit bis hin zu politisch progressiven Themen der Gegenwart – sowohl in der Literatur als auch in der Praxis. Die gebürtige Münchnerin liest, schreibt und lebt derzeit im Chiemgau.

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