Wie die Unidad Popular Chile in einen sozialistischen Staat verwandeln wollte

Der Sozialist Salvador Allende gewann am 04. September 1970 die chilenischen Präsidentschaftswahlen. Als Kandidat des Linksbündnisses „Unidad Popular“ versprach er tiefgreifende Veränderungen und Sozialismus.
Unterstützer:innen von Salvador Allende am 05. September 1964. Bei dieser Wahl holte der Sozialist Allende sein bestes Ergebnis.
Foto: James N. Wallace/Gemeinfrei

In vielerlei Hinsicht war die Unidad Popular eine Reaktion auf die christdemokratische Regierung unter Präsident Eduardo Frei. Bei den Präsidentschaftswahlen 1964 errang eine Vereinigung aus Rechten und Liberalen, die von den USA finanziert wurde, einen erdrutschartigen Sieg. Ende der 1960er Jahre begann diese Einheit bereits zu bröckeln.

Zu den Versuchen die anhaltende Krise zu lösen, gehörten die zaghafte Verstaatlichung der Kupferindustrie und eine umstrittene Agrarreform. Dies führte zu einer Spaltung der Regierung. Die Konservativen und die Liberalen waren strikt gegen diese Reformen und hatten sich bereits zu der Partido Nacional (PN) zusammengeschlossen.

Die Unidad Popular agierte einerseits als revolutionärer Gegenpol der bürgerlichen Kräfte, setzte jedoch auch bei den Reformen der Frei-Regierung an. „Indem [die Christdemokrat•innen] von der Notwendigkeit eines Strukturwandels sprachen, trugen sie dazu bei, dass die Notwendigkeit dieses Wandels zu einer Selbstverständlichkeit wurde“, merkte der marxistische Wirtschaftswissenschaftler und Allende-Berater Edward Boorstein an.

Die christdemokratische „Revolution in Freiheit“ wurde so ungewollt zum Nährboden für die Unidad Popular. Es sei darauf hingewiesen, dass Teile der Partido Demócrata Cristiano (PDC) eine antikapitalistische Politik verfolgten und versuchten, einen Mittelweg zwischen Marxismus und liberalem Kapitalismus zu finden. Das Konzept des „Kommunitarismus“ wurde jedoch nie vollständig entwickelt und blieb eher vage.

Die Wurzeln der Unidad Popular

Die Unidad Popular wurde im Oktober 1969 als Erweiterung der Frente Acción Popular (FRAP) gegründet, einem bestehenden Bündnis zwischen der Partido Socialista de Chile (PS) und der Partido Comunista de Chile (PCCh). Die FRAP war bei den Präsidentschaftswahlen 1958 und 1964 eine ernsthafte Bedrohung für die Regierungsparteien – so sehr, dass die USA befürchteten, dass die Sozialisten 1964 die Macht übernehmen würden. Daraufhin unterstützten sie die Kampagne von Frei mit 2,6 Millionen US-Dollar.

Die Parlamentswahlen im März 1969 zeigten jedoch bereits weniger Zustimmung für die Regierungsparteien. Dennoch erlangten sie weiterhin die Mehrheit in den beiden Kammern.

Aufgrund der offensichtlichen ideologischen Differenzen zwischen der PN und der PDC beschlossen beide, bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen 1970 mit eigenen Kandidaten anzutreten. Die Spaltung der Rechten stärkte die Position der neu gegründeten Unidad Popular.

Salvador Allende kandidierte zum vierten Mal für das Amt des chilenischen Präsidenten. Diesmal wurde er auch von der Partido Radical (PR) und der Acción Popular Independiente (API) unterstützt, die beide die Mittelschicht repräsentierten, während die Movimiento de Acción Popular Unitario (MAPU) bei der Landbevölkerung höheres Ansehen genoss.

 

Wie wir gleich sehen werden, war der Gewinn der Präsidentschaft der Schlüssel zur Verwirklichung des Grundsatzprogramms der Unidad Popular. Die Strategie wurde hauptsächlich von der PCCh entwickelt und bestand darin, die Staatsmacht demokratisch zu ergreifen und dann den Staat und seine Institutionen schrittweise im Rahmen der Verfassung umzugestalten, um sie in den „Estado Popular“ zu integrieren, der mit einer neuen Verfassung geschaffen werden sollte.

Das Präsidialsystem in Chile verlieh nur dem Präsidenten die notwendige Exekutivgewalt, um die vorgesehene Umgestaltung zu ermöglichen. Eine Mehrheit im Kongress und Senat ist für das Regieren sicherlich hilfreich, aber nicht zwingend notwendig. Dafür galt es nur eine einzige Hürde zu überwinden, die wir später noch genauer beleuchten werden.

Das Grundsatzprogramm der Unidad Popular

Das offizielle Grundsatzprogramm der Unidad Popular wurde im Dezember 1969 unterzeichnet. „Es ist klar, dass das Programm weder offen reformistisch war, noch ein Entwurf für den Übergang zum Sozialismus darstellte, trotz seiner Unbestimmtheit in vielen Punkten“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Pablo Lira.

Für den Wahlkampf hatte dies den Vorteil, dass sich sowohl revolutionäre als auch reformistische Gruppen innerhalb der Unidad Popular auf das Grundsatzprogramm berufen konnten. Dieser Vorteil sollte sich während der Präsidentschaft Allendes in einen Nachteil umwandeln.

Obwohl sich das Grundsatzprogramm wie ein Kompromiss liest, geht es viel weiter als das, was die christdemokratischen Reformist•innen jemals vorgeschlagen hatten. „Die Unidad Popular zu unterstützen bedeutet also nicht nur, für einen Mann zu stimmen, sondern sich auch für die dringende Ablösung der gegenwärtigen Gesellschaft auszusprechen, die auf der Herrschaft der großen nationalen und ausländischen Kapitalisten beruht.“

Die "Neue Wirtschaft"

Die Unidad Popular hatte zum Ziel die Wirtschaft grundlegend zu verändern. Drei Sektoren – ein staatlicher, ein privater und ein gemischter – bildeten darin die neue Wirtschaft. Einer der Kernpunkte war die Fortführung und Ausweitung des bereits eingeleiteten Verstaatlichungsprozesses der Kupferminen. Dies würde den Einfluss und den Profit der USA in Chile schmälern.

„Die Durchdringung und Vorherrschaft des ausländischen Kapitals hat in den letzten Jahren so stark zugenommen, dass die so genannte nationale Bourgeoisie praktisch verschwunden ist“, beklagt Allende kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten. „Wir haben die wirkliche Macht, sobald Chile ein wirtschaftlich unabhängiges Land ist.“ Die Verstaatlichung war also eine antiimperialistische Maßnahme oder Teil einer Strategie der „nationalen Befreiung“, wie Allende es nannte.

Dazu gehörten auch die Eisen-, Salpeter-, Jod- und Kohleindustrie, sowie Banken, Versicherungen und die Infrastruktur. „Alle diese Enteignungen werden immer unter voller Wahrung der Interessen des Kleinaktionärs erfolgen“, versicherte das Grundsatzprogramm. 

Der größte Sektor der „neuen Wirtschaft“ blieb weiterhin der private: Die Produktionsmittel würden in Privatbesitz bleiben. Allerdings könnten diese Betriebe und Unternehmen auf finanzielle und technische Hilfe des Staates zurückgreifen, wenn sie existenzsichernde Löhne und gute Arbeitsbedingungen garantieren. Der gemischte Sektor würde, wie der Name schon sagt, aus einem Teil staatlichen und einem Teil privaten Eigentums bestehen.

Mit der Neuorganisation der Wirtschaft wurde ein neues Ziel verfolgt: Die Produktion sollte so umgestellt werden, dass sie den Bedürfnissen der chilenischen Bevölkerung, vor allem denen der unteren Schichten, zugutekommt. Damit dies auch garantiert werden kann, setzt die Unidad Popular auf eine Planwirtschaft. 

Die neu gewonnene wirtschaftliche Unabhängigkeit sollte außerdem genutzt werden, um neue Handelsmärkte zu erschließen, die zuvor aufgrund des US-amerikanischen Einflusses nicht in Frage gekommen waren. Dazu zählten etwa die Sowjetunion oder die Volksrepublik China.

Die Notwendigkeit einer Agrarreform wurde bereits von der Regierung Frei erkannt. Ihr Ziel war die Umverteilung von Land durch Enteignung, aber die Umsetzung war eher dilettantisch, mit vielen Schlupflöchern und Latifundistas, die nicht bereit waren, einen Teil ihres Landes abzugeben.

Die Unidad Popular wollte die Enteignungen fortsetzen und Gebiete für die kollektive Landwirtschaft schaffen. Bisher vernachlässigte Gebiete sollten sofort bewirtschaftet werden. Ziel war, dass Chile sich mit den von dort eingebrachten Lebensmitteln selbst versorgen kann.

For the many, not the few

Begründet wurde die Notwendigkeit dieser neuen autarken Landwirtschaftspolitik auch mit der sozialen Frage. Viele chilenische Jugendliche und Kinder waren unterernährt, hatten keinen Zugang zu Bildung und damit keine Aufstiegschancen.

Mit der nationalen Einheitsschule war ein neuer Schultyp in Planung, der Bildung für alle ermöglichen sollte. Doch zuvor musste das Land alphabetisiert werden. Rund 7 Prozent der Gesamtbevölkerung konnte 1970 nicht lesen und schreiben. Dies hatte auch Auswirkungen auf die politische Partizipation: Erst 1970 wurde Analphabet•innen das Wahlrecht zugesprochen.

Im Gesundheitsbereich wurden grundlegende Veränderungen vorgeschlagen. Die Medizinversorgung sollte verbessert und ausgebaut, sowie die Preise für Medikamente reguliert werden. Details fehlen jedoch im Programm.

Regulationen sah auch die Wohnungspolitik vor: Der Wohnungsmangel sollte mit einem großangelegten Wohnungsbauprogramm beseitigt werden, mit dem erklärten Ziel, dass jede Familie eigenes Wohneigentum besitzt. Die zu zahlenden Raten und Mieten dürften 10 Prozent des familiären Einkommens nicht überschreiten.

1970 gehörten rund 40 Prozent der Bevölkerung zur Arbeiter•innenklasse. Ihnen versprach die Unidad Popular ausreichend hohe Mindestlöhne, die außerdem an die Inflation gekoppelt werden. Die Einführung dieser neuen Mindestlöhne geschehe zuerst auf dem staatlichen Sektor, um sie dann schleichend auf alle Sektoren ausweiten. Gleichzeitig würde man sich für die Begrenzung der Gehälter hoher Beamter einsetzen. 

Der neue Staat: Estado Popular

Den Arbeiter•innen wurde im Programm eine zentrale Rolle zugesprochen. Dabei ging es nicht nur um die Verbesserung deren sozialer Situation, sondern um ein aktives Mitbestimmungsrecht.

Um dies umsetzten zu können, strebte die Unidad Popular einen neuen Staat an: Den Estado Popular. Eine neue Verfassung würde das präsidentielle Zwei-Kammern-System nach amerikanischem Vorbild durch ein Ein-Kammer-System ersetzen – die Asamblea del Pueblo (Volksversammlung).

Diese Volksversammlung ersetzt in diesem Staat sowohl den Kongress und den Senat, als auch den Präsidenten und besäße somit auch exekutive Gewalt, die etwa die Wirtschaft zentral regulieren oder Richter•innen des Obersten Gerichtshofes bestimmen kann. Die Mitglieder werden durch eine geheime Wahl bestimmt, bei der alle Bürger•innen über 18 Jahre wahlberechtigt sind.

Die gewählten Vertreter•innen in der Asamblea del Pueblo werden durch bestimmte Mechanismen kontrolliert. Wie diese Mechanismen funktionieren, wird im Programm nicht näher erläutert.

Die Asamblea del Pueblo stellt somit das höchste Organ im Staate dar. Gleichzeitig wollte man den neuen Staat aber auch dezentraler organisieren. Verwaltungs- und Gemeindereformen sollten den kompletten Staatsapparat demokratisieren und diese über Finanz- und Wirtschaftsfragen entscheiden lassen, sofern diese mit den Beschlüssen der Asamblea del Pueblo vereinbar sind.

Um die Wege zwischen den Exekutivkräften und dem Volk so kurz wie möglich zu halten, plante die Unidad Popular eigenständige Komitees in Schulen, Betrieben und Gemeinden. Die gewählten Mitglieder der Komitees hatten sodann ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen, die dann an entsprechende Stellen weitergetragen werden.

Politische Umsetzung

Dass die Umsetzung des Programms ein schwieriger Weg sein würde, war den Beteiligten der Unidad Popular bewusst. Auch wenn Allende am 04. September 1970 die Wahlen gewann, war es ein hauchdünner Sieg ohne absolute Mehrheit, der die Bestätigung des Senats und des Kongresses in einer gemeinsamen Sitzung erforderte (Congreso Pleno). Mit anderen Worten: Er war auf die Stimmen der Christdemokrat•innen angewiesen.

Zwar konnte er diese vorerst für sich gewinnen, doch im Laufe der Zeit wanderte die PDC immer weiter nach rechts, was kleinere Abspaltungen zum Überlauf in die Unidad Popular bewegte. Dies änderte das Kräfteverhältnisse in den beiden Kammern jedoch nicht: Die Opposition nutzte sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um die Regierung zu schwächen: Gegen Minister wurden Amtsenthebungsverfahren eingeleitet oder die ihnen nahestehende Justiz erklärte Vorhaben der Allende-Regierung für verfassungswidrig.

Erschwerend kam hinzu, dass die Einheit der Unidad Popular ähnlich zu bröckeln begann, wie die der Vorgängerregierung. Die reformistische Mehrheit innerhalb des Wahlbündnisses drängte auf einen langsameren Prozess und eine Einigung mit der PDC, die jedoch nie zustande kam. Die revolutionären Gruppen innerhalb und außerhalb der Unidad Popular wurden ungeduldig.

Um dies auszugleichen, erklärte Allende: „Wenn wir einen Gesetzentwurf vorlegen und der Kongress ihn ablehnt, berufen wir uns auf das Plebiszit.“ Dies wurde jedoch kaum in die Tat umgesetzt.

Zwar wurden 1971 die Kupferminen verstaatlicht, der Anstieg der Inflation (vorerst) etwas eingedämmt, die Arbeitslosenzahlen gesenkt und die Produktion im Lande erhöht, doch das revolutionäre Ziel der Unidad Popular, nämlich die Errichtung des Estado Popular auf Grundlage einer neuen Verfassung, wurde nicht erreicht.

Nach einem beachtlichen Erfolg bei den Kommunalwahlen 1971, verpasste die Unidad Popular, trotz Gewinne, die Mehrheit in Senat und Kongress bei den Parlamentswahlen 1973. Wenige Monate später erschoss sich Allende, als das putschende Militär den Präsidentenpalast stürmte. Mit ihm wurde der chilenische Weg zum Sozialismus vorerst begraben.

Literatur

Boorstein, Edward. Allende’s Chile. International Publishers 1977

 

Debray, Régis. Socialism in Chile. Conversations with Allende. New Left Book 1971

 

Lira, Pablo. The Crisis of Hegemony in the Chilean Left. in: O’Brien, Philipp. Allende’s Chile. Praeger Publishers 1976

 

Nohlen, Dieter. Chile. in: Nohlen, Dieter. Handbuch der Wahldaten Lateinamerikas und der Karibik. Politische Organisation und Repräsentation in Amerika. Springer Fachmedien 1993

 

Programa Basico de Gobierno de la Unidad Popular (1969)

 

Roddick, Jacqueline F.. Class Structure and Class Politics in Chile. in: O’Brien, Philipp. Allende’s Chile. Praeger Publishers 1976

 

Stallings, Barbara. Class Conflict and Economic Development in Chile, 1958-1973. Stanford University Press 1978

ist Chefredakteur und Gründer von Alerta. Sein Interesse gilt insbesondere der linken und antifaschistischen Geschichte und Kultur. Er lebt und schreibt in Saragossa/Spanien.

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Max Brym war in seinem Leben DKP-Kader, Maoist und Trotzkist. Nicht umsonst war er in seiner bayerischen Heimat als "Roter Max" verschrien. Im Alerta Gespräch erzählt er über sein Leben und sein Buch über seine Zeit als Maoist.