George Orwell in Spanien: Auf der Suche nach der Wahrheit

George Orwells „Mein Katalonien“ hat das Bild über den Spanischen Bürgerkrieg geprägt wie kein anderes Buch. Das führt zu einer Verzerrung des komplexen Konflikts und lenkt von der eigentlichen Botschaft Orwells ab.
Die „Ruta Orwell“ kann bis heute in der Nähe von Alcubierre besichtigt werden. Ein Teil von Orwells Buch spielt an diesem Frontabschnitt
Montage: Christoph Pleininger

Als George Orwell 1950 starb, waren nicht einmal tausend Exemplare von Mein Katalonien (1938) verkauft worden. Das Interesse an dem Buch war anfangs sehr gering, da die linken Medien und Gruppen Orwell als „Verräter“ ansahen, weil er die antistalinistische katalanische Partit Obrer d’Unificació Marxista (POUM) offen unterstützte. Selbst sein Verleger Victor Gollancz lehnte das Buch ab.

Nach Orwells Tod wurde Mein Katalonien nicht nur populär, sondern entwickelte sich von Memoiren zu einem Buch, das für den Spanischen Bürgerkrieg repräsentativ ist. Dies führte dazu, dass Historiker•innen das Buch aufgrund dessen verzerrter Sicht auf die tatsächlichen Ereignisse und deren Relevanz kritisierten.

Die britische Historikerin Helen Graham sagt, dass Orwell „die Rolle der katalanischen und spanischen Kommunisten übertreibt“, wenn es um die Maiunruhen in Barcelona geht. Es gibt in der Tat zwei große Probleme bei Mein Katalonien: mangelndes Wissen und Subjektivität.

Orwell ist nicht Orwell

Letzteres spricht Orwell selbst an. Im Buch erinnert er die Leser•innen an die unvermeidliche Verzerrung, „die dadurch entsteht, dass ich nur eine Ecke der Ereignisse gesehen habe“.  Das Eingeständnis der eigenen Subjektivität erfüllt eine wichtige Funktion für das Entstehen einer authentischen Erzählung, wie der australische Historiker Peter Monteath betont. Als „intelligenter, gebildeter Beobachter“ habe Orwell seine Subjektivität geschickt verschleiert, indem er über seine eigenen Unzulänglichkeiten und die positiven und negativen Seiten verschiedener politischer Gruppen schrieb.

Monteath geht sogar noch weiter und stellt fest, dass „[a]uch wenn man dieser Figur den Namen ‚Orwell‘ gibt, man nicht davon ausgehen kann, dass dieser Orwell mit dem Autor Orwell identisch ist“. Jene These wird durch die Tatsache gestützt, dass er während des Krieges seinen bürgerlichen Namen Eric Blair verwendete. 

Dies ist wesentlich für das Verständnis von Mein Katalonien. In Anlehnung an den Begriff Bildungsroman beschreibt Monteath Orwells Werk als eine Bildungsreportage. Der Protagonist durchläuft einen politischen Reifeprozess: Er kommt als naiver Ausländer, der den Faschismus in Spanien bekämpfen will, und wird sich nach und nach der politischen Intrigen und deren Auswirkungen auf den Krieg und die Revolution bewusst.

Es ist schwierig, Autor und Protagonist zu trennen, da der Autor Orwell später Bücher über den Spanienkonflikt rezensierte und diesen ebenso in entsprechenden Essays kommentierte – auch nach Kriegsende. Am bekanntesten sind Spilling the Spanish Beans (1937) und Looking Back on the Spanish War (ca. 1942). Obwohl Orwell an seiner These festhielt, die Kommunist•innen seien die konterrevolutionäre Kraft, gab er in einem Brief an Frank Jellinek zu:

"Eigentlich habe ich die 'Linie' der P.O.U.M. sympathischer dargestellt, als ich sie empfunden habe, denn ich habe ihnen immer gesagt, dass sie im Unrecht sind, und mich geweigert, der Partei beizutreten. Aber ich musste sie so sympathisch wie möglich darstellen, weil sie in der kapitalistischen Presse kein Gehör fand und in der linken Presse nur Verleumdungen."

Dies zeigt einmal mehr, dass eine Unterscheidung zwischen dem Autor Orwell und dem Protagonisten in Mein Katalonien notwendig ist, trotz der unvermeidlichen Überschneidungen zwischen den beiden Personen.

Eine komplexe Persönlichkeit

Ein häufiger Vorwurf lautet, Orwell sei naiv gewesen – eine Behauptung, die weithin bestritten wird. „George Orwell hat die Politik ernst genommen“, sagt der Soziologe David N. Smith. Außerdem sagt der sozialistische Historiker John Newsinger, dass „Orwell […] immer ein ‚work in progress‘ war. Seine Ideen und Haltungen entwickelten sich ständig weiter und veränderten sich“. Das bedeutet, dass Mein Katalonien nur verstanden werden kann, wenn man es in den Kontext seiner Zeit stellt.

Es ist wahrscheinlich, dass der Autor Orwell politisch nicht so naiv war wie der Protagonist in seinem Buch. „Er wusste von den Moskauer Prozessen, bevor er nach Spanien reiste, und teilte die Ansicht der I.L.P.-Presse, dass es sich um politische Morde handelte“, sagt Orwell-Biograf Bernard Crick. David N. Smith zufolge „klangen seine Satiren über ideologische Exzesse wahr, weil er diese Exzesse sehr gut kannte – ideologisch, kulturell und theoretisch.“

Orwell interessierte sich für die linke Politik und ihre Themen. Sein Buch Der Weg nach Wigan Pier (1937) ist eine soziologische Bewertung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter•innen in Nordengland. Es wurde veröffentlicht, als er sich in Spanien aufhielt.

"Cocksure Partisan"

Orwell mag sich nicht der Naivität schuldig machen, aber sein Mangel an Wissen und Verständnis für die Situation in Spanien ist offensichtlich. Helen Graham stellt fest, dass Orwell „weder Spanisch noch Katalanisch sprach“.

Der britische Historiker Paul Preston kritisiert, dass die „politische Analyse und die Vorhersagen durch seine Akzeptanz der parteiischen Ansichten der anarchistischen und POUM-Genossen sowie durch seine Unkenntnis des weiteren Kontextes zutiefst fehlerhaft sind“. Dies wird in dem bereits erwähnten Essay Spilling the Spanish Beans deutlich. Kurz nachdem er den Kommunist•innen in Spanien entkommen konnte, schreibt Orwell:

"[I]m Angesicht eines so krassen Reaktionärs wie Franco entsteht für eine Weile eine Situation, in der Arbeiter und Bourgeois, in Wirklichkeit Todfeinde, Seite an Seite kämpfen. Dieses unbehagliche Bündnis ist als Volksfront bekannt [...]. Es ist eine Kombination mit ungefähr so viel Lebenskraft und ungefähr so viel Existenzberechtigung wie ein Schwein mit zwei Köpfen [...]."

Dieses „unruhige Bündnis“ hatte bereits vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs bestanden und die Parlamentswahlen im Februar 1936 gewonnen. Es war nicht Franco, gegen den sich die Liberalen und Sozialist•innen zusammentaten, denn die Einheit war bereits im Juli 1936 brüchig geworden. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Volksfront eine wiederhergestellte, wenn auch leicht veränderte politische Koalition war, die auf die Jahre 1930/31 zurückging.

Was Paul Preston beunruhigt, ist der Einfluss, den Mein Katalonien auf das Verständnis des Spanischen Bürgerkriegs hat. Orwell kam Ende Dezember 1936 in Barcelona an und verließ Spanien im Juni 1937. Seine Erfahrungen sind nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich begrenzt. Das Buch dreht sich um Barcelona und die Aragonienfront. Was dort geschah, unterscheidet sich stark von den Ereignissen in Andalusien oder im Baskenland.

Eine andere Sichtweise

Vielleicht müssen wir  Mein Katalonien auf eine andere Weise betrachten. Es ist nicht so sehr ein Buch über den Spanischen Bürgerkrieg, sondern eine Geschichte, die sich lediglich während dieses Krieges abspielt. Obwohl Orwells Erfahrungen unweigerlich mit den Ereignissen in Spanien zu dieser Zeit verbunden sind, haben die Botschaften, die er vermittelt, eine größere und universelle Bedeutung.

Die „objektive Wahrheit“ kann leicht durch Lügen und Propaganda unterdrückt werden. Was gestern richtig war, ist heute falsch. „So etwas macht mir Angst“, gesteht Orwell, denn „diese Lügen […] werden in die Geschichte eingehen“.  Hier zeigt sich die eigentliche Stärke des Buches: seine Aktualität und Mehrdeutigkeit.

Es ist ein leichtes durch eine Umdeutung der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft ideologisch zu formen. Auch hier lohnt ein Blick nach Spanien: Die politische Rechte und große Teile der Gesellschaft halten an dem von den Franquist•innen gezeichnten Bild der spanischen Republik fest. Der spanische Republikanismus, ursprünglich ein Projekt liberaler Intellektueller, ist heute dank rechter Propaganda ein Synonym für Kommunismus.

Wie in der Einleitung erwähnt, verkaufte sich Mein Katalonien nicht gut. Erst 1952, auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära, wurde das Buch in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Es überrascht nicht, dass es als eine Verurteilung des Kommunismus gefeiert wurde. Während der Studentenbewegung in den 1960er Jahren und Ereignissen wie dem Prager Frühling las die Neue Linke Orwell vor allem als Revolutionär und Antistalinisten. 

Die Fabel Farm der Tiere (1945) und der dystopische Roman 1984 (1949) verstärkten diese Vorstellungen noch. Beide Bücher waren stark von Orwells Erfahrungen in Spanien beeinflusst, vor allem von seiner Besessenheit der „Wahrheit“ (schließlich gibt es in 1984 ein Wahrheitsministerium). Alles begann jedoch mit Mein Katalonien und mit echtem Horror und Terror, wie Stephen Spender in World Review zu Recht bemerkte. 

Literatur 

David N. Smith. “The Political George Orwell.” Jacobin Magazin, June 25, 2018.

 

 

 

 

 

 

 

ist Chefredakteur und Gründer von Alerta. Sein Interesse gilt insbesondere der linken und antifaschistischen Geschichte und Kultur. Er lebt und schreibt in Saragossa/Spanien.

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