Nicht immer muss Haltung laut, manchmal muss sie sogar leise sein

Ist Lautsein im Diskurs immer die richtige Antwort? Kolumnistin Mely Kiyak verneint dies und plädiert in „Haltung“ für das gelegentliche Leisesein.

Als das Buch 2018 erschien, habe ich mich geweigert, es zu lesen. Denn damals war ich keineswegs bereit, Leisesein auch nur als Option zu akzeptieren. „Wer schweigt, macht sich mitschuldig“ – Zivilcourage zeigen, Aufstehen, Dagegenhalten, eine sichtbare Mehrheit bilden und hörbaren Widerstand leisten war (und ist) schließlich unser Lieblings-Credo.

Aber ist das wirklich immer sinnvoll? Mely Kiyak macht in ihrem Werk dem Ärger über nichtssagende Phrasendrescherei in Zeiten, in denen die Gesellschaft gut daran täte, eine gemeinschaftliche Haltung einzunehmen, Luft. Aber wie soll man eine gemeinschaftliche Haltung einnehmen, wenn man diese gar nicht hat? Was genau ist Haltung eigentlich und muss sie wirklich lautstark nach Außen verteidigt werden, um deutlich zu sein?

Was ist Haltung?

Die Autorin stellt die unangenehme Frage nach der Substanz hinter einem „Überfluss an Bekennertum“ durch das mehr und mehr komplexe Sachverhalte auf eine einfache schwarz/weiß (dafür/dagegen) Sicht reduziert werden. Beinahe jeder scheint heutzutage Experte auf sämtlichen Gebieten zu sein, ohne sich jemals tatsächlich mit der Thematik befasst zu haben – jeder von uns kennt dieses Phänomen aus den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke.

Hierbei gehen nicht nur wichtige Inhalte verloren, sondern nicht zuletzt werden auf diese Weise auch radikale Sichtweisen geschürt und befeuert. Sie prangert an, dass in den letzten Jahrzehnten trotz lautstarkem Protest in entscheidenden Momenten keine klare Haltung gezeigt wurde und sich so sowohl das sprachlich als auch das politisch Tolerierbare Stück für Stück verschoben hat.

Zu lange hat man auf diese schleichenden Entwicklungen zu schwammig reagiert und heute stehen die Parteien, die Gesellschaft, Gewerkschaften, Vereine und Behörden uneins und ratlos vor deren lärmenden Ergebnis.

Die Rolle der Medien

Eine der größten Streitpunkte dieser Tage ist wohl der Umgang der Medien und Journalisten mit den neuen Rechten und genau diesem Bereich widmet M. Kiyak die Essenz ihres knackigen Textes. Wie kann man jemanden vorführen, ohne ihm eine Bühne zu bieten? Aufmerksam und kritisch beobachtet sie dabei sich selbst und ihr berufliches Umfeld, wie vom Publikum auf Arten der Berichterstattung reagiert wird und wie das Medienecho die Reichweite auch in ungünstigen Fällen um ein Vielfaches erhöht.

Im Laufe ihrer Beobachtungen und Gedanken entwickelt sie ein eigenes Gespür für die Antwort auf die Frage, wann sie gerne laut und wann lieber leise sein möchte. Sie wünscht sich eine Medienlandschaft, in der Antidemokraten nicht nur keine Bühne erhalten, sondern verachtet und geächtet werden. Für sie als Kolumnistin bedeutet das nach einem Jahrzehnt Anschreiben gegen Rechtsextremismus und deren Strömungen eine einschneidende Veränderung in ihrem Wirken – Widerstand durch Konsequenz statt durch Aufschnappen und Aufarbeiten jedes von rechts geworfenen Köders.

Keine Empörung mehr über bewusste Provokationen, keine ermüdenden Diskussionen denen mit Argumenten ohnehin nicht beizukommen ist, keine reißerischen Schlagzeilen. Dafür Ausgrenzung und Verdrängung auf allen gesellschaftlichen, medialen und politischen Ebenen. Leise, unerschütterliche Haltung.

An der ein oder anderen Stelle wird man durchaus auch selbst etwas zu knabbern haben, doch genau das ist Zweck dieses Buches und macht es zu einer hervorragenden Orientierungshilfe, um die eigene Haltung einmal gründlich zu reflektieren. „Es gibt eine Zeit, da muss man die Stimme erheben. Und eine Zeit, da muss man zu härteren Mitteln greifen: leise sein.“ (Zitat Klappentext)

Haltung – Ein Essay gegen das Lautsein

Mely Kiyak

Duden, 62 Seiten

10,00 Euro

 

Leseprobe (PDF)

ist Chefredakteurin bei Alerta und seit ihrer Jugend politisch aktiv. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte reichen von der deutschen Vergangenheit bis hin zu politisch progressiven Themen der Gegenwart – sowohl in der Literatur als auch in der Praxis. Die gebürtige Münchnerin liest, schreibt und lebt derzeit im Chiemgau.

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