Queer lives – sichtbar und dennoch oftmals ungesehen 

Um mehr über die queere Vergangenheit zu erfahren, hat sich der CSD Traunstein die Ausstellung „To be seen. Queer Lives 1900-1950“ im Münchner NS-Dokumentationszentrum angesehen.
Der CSD Traunstein bei der Ausstellung „To be seen. Queer Lives 1900-1950“. Was heute diskutiert wird, war auch schon früher Thema.
Foto: Sabrina Teifel

Es ist Vorweihnachtszeit und ich sitze im Zug mit den wunderbaren Menschen des CSD Traunstein . Unser Ziel ist die Landeshauptstadt München.

Die Zugfahrt wird genutzt für den Austausch, die Planung anliegender Aktionen und die Organisation zukünftiger Treffen. In München angekommen stoßen schließlich noch einige Leute zu uns und nach einer kleinen Vorstellungsrunde – natürlich inklusive der Pronomen, die jede•r für sich bevorzugt – geht es los.

Doch wer jetzt an Christmas shopping oder Glühwein trinken denkt, der irrt sich – auf der Tagesordnung stehen weitaus ernstere Themen. Unser Ziel ist das ehemalige Parteiviertel der NSDAP in der Maxvorstadt Münchens, denn auf dem Grundstück, auf dem einst das „Braune Haus“, die ehemalige Parteizentrale der NSDAP, stand, wurde 2015 das NS Dokumentationszentrum eröffnet, wo noch bis 21. Mai 2023 die Ausstellung „To be seen. Queer lives 1900 – 1950“ zu sehen ist.

Das dunkelste Kapitel bunter Geschichte

Schon kurz nach Betreten der Ausstellung weicht die fröhliche Stimmung spürbarer Beklommenheit. Gleich die ersten Tafeln und Schaukästen beschäftigen sich mit Dingen, die einem, obwohl man sie natürlich bereits wusste, die Sprache verschlagen. Es geht um homosexuelle Soldaten in der Wehrmacht und deren Verfolgung ab Mitte der 30er Jahre und die 1934 beginnenden Razzien im LGBTQ Umfeld. Von einer dieser ersten Razzien war auch eines der ersten Münchner Szenelokale, der „Schwarzfischer“, betroffen, in dem beispielsweise die Familie Mann regelmäßig verkehrte.

Einblick in die Ausstellung "Queer Lives 1900-1950" in München
Einblick in die Ausstellung "To be seen. Queer Lives 1900-1950"

Dann steht man plötzlich vor den wahrscheinlich schockierendsten Zeitdokumenten dieser Ausstellung – die Namenslisten aus Konzentrationslagern, auf denen die sexuelle Orientierung hinter den Namen der Häftlinge als Haftgrund vermerkt ist. Diese Menschen wurden verhaftet, in Lager gebracht und getötet, weil den Nationalsozialisten ihre Art zu leben und zu lieben nicht recht war.

Und dabei verhielten sich die Nazis wie so oft auch im Umgang mit Homosexualität unglaublich opportunitistisch. Lesbische Frauen wurden zum Beispiel nur dann geahndet, wenn sie in irgendeiner Form mit Juden oder Jüdinnen in Verbindung standen. Auch bei einigen Künstlern und Schriftstellern sahen die Nationalsozialisten über deren sexuelle Orientierung hinweg und profitierten von deren Kunst und Talent.

Was war davor, was kam danach?

Besonders hervorzuheben ist wohl der Teil der Ausstellung, der sich mit dem queeren Leben vor dem 2. Weltkrieg beschäftigt. Hier wird aufgezeigt, dass sowohl die Wissenschaft als auch die Gesellschaft schon einmal viel weiter waren, queere Menschen schon einmal viel mehr Akzeptanz erfahren haben. Es waren die Nationalsozialisten, die all die bereits erreichten Fortschritte wie so Vieles wieder dem Erdboden gleich machten.

Einer der ersten Sexualwissenschaftler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war Magnus Hirschfeld. Als Mediziner forschte er unermüdlich, als Aktivist kämpfte er gegen den Paragraphen 175, in der Öffentlichkeit war er 1919 Mitwirkender am ersten Schwulenfilm der Filmgeschichte und privat verbrachte er sein Leben mit seinen beiden Liebhabern. Er starb 1935 in Nizza und auf seinem Grabstein steht sein Lebensmotto geschrieben: „durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“. Ein bemerkenswerter Mann, aus dessen Leben und Schaffen die queere Community noch heute schöpfen kann, auch wenn der Großteil seines Erbes durch die Nazis verloren gegangen ist.

Zum Ausklang beschäftigt sich die Ausstellung mit der queeren Szene von heute, der Entwicklung in der Wissenschaft, mit dem Selbstverständnis der einzelnen und der gesamten Gruppierung. Was würde da noch besser passen, als ein paar schöne Stücke von queeren Künstler•innen? Diese bieten einen wirklich angenehmen Abschluss und laden nach all der schweren Kost zum Durchatmen ein.

Queere Jugend im Aktivismus bestätigt

Wieder an der frischen Luft interessieren mich die Eindrücke der anderen – wie hat diese Ausstellung auf die jungen Menschen des CSD Traunstein gewirkt, was hat sie beeindruckt, erschüttert oder begeistert? Als erstes kommt Luca zu Wort:

„Erstmal muss ich sagen, dass die Ausstellung natürlich wahnsinnig gut gestaltet ist und es freut mich auch sehr, dass das staatlich so unterstützt wird, dass man das mit freiem Eintritt machen kann, was ja nicht überall so ist. In Nürnberg zum Beispiel, im Memorium Nürnberger Prozesse, zahlt man sechs Euro Eintritt und das ist eigentlich ein Unding, dass Erinnerung in Deutschland teilweise etwas kostet. Das darf nicht sein und daran sollten wir etwas ändern.

Konkret zu der Ausstellung muss ich sagen, dass mir dieser Zeitraum, in dem sich politisch Dinge geändert haben, nicht bewusst war. Vor 150 Jahren wurde begonnen mit systematischer Forschung zu LGBTQIA Themen, so wohl geisteswissenschaftlich als auch naturwissenschaftlich. Dann hat es 100 Jahre gedauert, bis beispielsweise 1958 der Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, tatsächlich abgeschafft wurde. Auch dass 2011 – also erst vor 11 Jahren – die systematische Sterilisation von Transmenschen offiziell abgeschafft wurde, das ist schon wahnsinnig erschreckend.

Das ganze zeigt aber auch, das solche Proteste wie die CSDs, die ja keine Spaßveranstaltungen einer verrückten Minderheit, sondern ernstgemeinte und ernsthafte, politische Protestbewegung sind, wirken. Ich selbst sehe mich dadurch in meinem Aktivismus bestätigt. So bedrückend diese Ausstellung auch ist, sie hat mich auch motiviert, weiterzumachen, weil man wirklich etwas verändern kann, das hat man gesehen, sogar schon vor 150 Jahren.“

Antonia hat sich vor allem den wissenschaftlichen Teil einmal genauer angeschaut: „Vieles über die Verfolgung homosexueller Männer und anderer queerer Menschen während des NS wusste ich natürlich schon. Was ich aber sehr interessant fand ist, dass auch gezeigt wurde dass queeres Leben, queere Emanzipation etwa nicht erst in den 70er Jahren angefangen hat, sondern dass schon Anfang des letzten Jahrhunderts z. B. Geschlechtsangleichungen durchgeführt wurden, dass auch Ausweise ausgestellt wurden mit der Geschlechtsidentität der betreffenden Person. Dr. Magnus Hirschfeld, der sich zum Beispiel auch Anfang des 19. Jahrhunderts schon sicher war, dass Homosexualität angeboren ist, beschäftigte sich auch mit Transsexualität und half transsexuellen Menschen, in seinem Umfeld war das alles einfach ganz normal. Während es heute, fast hundert Jahre später, im Bundestag über Dinge wie das Selbstbestimmungsgesetz große Diskussionen gibt.“

Pinke Wohlfühlzone

Dann geht es doch noch auf den Christkindlmarkt, aber nicht auf irgendeinen. Heute kann es natürlich nur „Pink Christmas“ im Glockenbachviertel sein – übrigens Münchens erster klimaneutraler Weihnachtsmarkt. Hier können sich die queere Community und selbstverständlich auch alle anderen Gäste wohlfühlen und sich mit den verschiedensten, teilweise veganen Leckereien und Getränken verwöhnen während sie sich vom ausgefallenen Schmuck am Regenbogen-farbigen Weihnachtsbaum in Weihnachtsstimmung bringen lassen.

Noch ein schneller Schnappschuss mit dem schwulen Weihnachtsmann und den Blick nochmal voller Dankbarkeit über diese wirklich angenehme Atmosphäre schweifen lassen. Es war ein grausamer, langer Weg bis hierhin und das Plakat am Ausgang reißt einen zurück auf den Boden der Tatsachen. Es geht um die WM in Katar, um das Verbot der FIFA, die „One love“-Binde zu tragen. Queere Menschen haben es längst nicht überall auf der Welt so vergleichsweise leicht, wie hier und auch in Deutschland ist bei Weitem nicht alles rosarot.

Banner des Weihnachtsmarktes "Pink Christmas" in München
Eine wichtige Erinnerung: Die Diskriminierung queerer Menschen

Aber nachdem ich einen Tag lang den offenen, unaufgeregten und urteilsfreien Umgang dieser jungen Menschen sowohl mit sämtlichen Themen, die einst tabuisiert waren, als auch im zwischenmenschlichen Miteinander, erleben durfte, weiß ich: Es wird noch viel passieren und ich finde, folgendes Zitat von José Esteban Muños ist das perfekte Schlusswort für diesen eindrucksreichen Tag: „Querness exists for us as an ideality that can be distilled from the past and used to imagine a future.“

Addendum:

Die Ausstellung ist inhaltlich natürlich deutlich umfangreicher, als hier beschrieben und ein Besuch ist wie auch ein Besuch der Dauerausstellung des NS Dokumentationszentrums absolut empfehlenswert. Im Untergeschoss befindet sich außerdem eine Bibliothek mit zahlreichen (auch fremdsprachigen) Büchern zu Themen rund um den NS. Auch die „Bibliothek der verbrannten Bücher“, eine komplette Wand an der hinter Glas Bücher ausgestellt sind, die von den Nationalsozialisten verbrannt oder verbannt wurden, findet sich hier. 

Der Eintritt in das NS Dokumentationszentrum München ist frei.

ist Chefredakteurin bei Alerta und seit ihrer Jugend politisch aktiv. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte reichen von der deutschen Vergangenheit bis hin zu politisch progressiven Themen der Gegenwart – sowohl in der Literatur als auch in der Praxis. Die gebürtige Münchnerin liest, schreibt und lebt derzeit im Chiemgau.

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