Ein Comic, der einen tieferen Einblick in die Geschichte bietet als ein Geschichtsbuch es je könnte

Der amerikanische Cartoonist Art Spiegelman hat mit „Maus“ eine Graphic Novel geschaffen, die das Grauen des Holocausts auf einer persönlichen Ebene erzählt – nämlich die seines Vaters.

Bereits ab 1980 erschien Art Spiegelmans „My Father Bleeds History“ nach und nach in Spiegelman/Moulys Avantgarde-Comic-Magazin RAW und wurde 1986 bei Pantheon als Buch veröffentlicht, dessen 2. Band „And Here My Troubles Began“ 1991 auf den Markt kam.

1992 erhielt Art Spiegelman für seine „Maus“ als erster Comicbuch-Autor überhaupt den Pulitzer Preis – und eigentlich wäre damit über die Einzigartigkeit des Werkes bereits alles gesagt. Tatsächlich ist dieser Comic ein gewaltiges Gesamt(kunst)werk, das sich nur schwer in Worte fassen lässt, die ihm gerecht werden.

Nicht mal dem Autor selbst war die monumentale Bedeutung seines Schaffens bewusst und vielleicht ist genau das einer der Aspekte, die ein so authentisches Buch erst möglich gemacht haben.

Der eigene Vater, der Überlebende

Die Graphic Novel erzählt die Geschichte von Art Spiegelmans Vater Vladek (im Buch Wladek), der wie eine Vielzahl polnischer Juden während des 2. Weltkrieges in Auschwitz inhaftiert war und diese Hölle als einiger der wenigen überlebt hat. Doch zunächst geht es um den Weg, der dorthin führte.

Die Erzählung beginnt um 1935, Wladek Spiegelman ist ein junger, erfolgreicher Mann am Beginn seines Lebens. Er lernt seine zukünftige Frau kennen, entwickelt sich beruflich und wird zum ersten Mal Vater während sich langsam aber stetig das bevorstehende Unheil zusammenbraut, dessen Ausmaß sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorzustellen vermag.

Selbst nach Wladeks Kriegseinsatz und -gefangenschaft, selbst als bereits Gerüchte aus den Konzentrationslagern durchsickern, begreifen längst nicht alle den Ernst der Lage. Trotz aller Bemühungen wird die Familie doch recht bald getrennt und so steht W. Spiegelman 1944 schließlich vor den Toren von Auschwitz. Was sich dort abspielen wird, weiß unsere Generation nur noch aus den Geschichtsbüchern. Hier endet der erste Teil.

Im zweiten Teil beginnt das Grauen. Wladek Spiegelman und seine Mitgefangenen kämpfen täglich um‘s Überleben. Auch Anja wird nach einiger Zeit nach Auschwitz verlegt, Wladek tut sein Möglichstes, um auch sie am Leben zu erhalten. Nach dramatischen Monaten sind Anja und Wladek schließlich wieder vereint, aber bis sie in Sicherheit sein werden, ist es noch ein weiter Weg.

Schließlich und endlich endet dieser in Amerika. Vladek und Anja Spiegelman konnten Deutschland hinter sich lassen, was dort jedoch geschehen war, hat sie und andere Überlebende für immer geprägt.

Persönliche Einblicke

Natürlich gibt es eine Vielzahl Interviews, Bücher und Dokumentationen von und mit Zeitzeugen, die allesamt von gleichwertiger, enormer Wichtigkeit sind und dennoch sind die Aufzeichnungen von Art Spiegelman einzigartig. Er erzählt die Geschichte, wie sein Vater sie ihm erzählt hat.

So gibt es immer wieder mal kürzere, mal längere Sequenzen, in denen nicht die Erzählung von Wladek Spiegelman im Vordergrund steht, sondern die Umstände und Szenarien in denen er seinem Sohn Art das Erlebte schildert. Auf diese Weise lernen die Leser•innen Wladek S. auf zum Teil sehr private Weise kennen und erhalten außerdem einen kleinen Einblick in dessen Leben und Persönlichkeit nach dem Krieg.

Ein weiterer Aspekt, der diesen Comic so besonders macht, ist die Art, wie der Autor seinen Vater sprechen lässt. In verschiedenen Abschnitten und Zeitepochen spricht Wladek Spiegelman seine Muttersprachen Jiddisch und Polnisch oder aber gebrochenes Englisch, „Yinglish“. Im Original spricht die Figur immer dann perfektes Englisch, wenn sie eine ihrer Muttersprachen spricht und so ist es auch in der deutschen Übersetzung.

Jiddisch und Polnisch werden als perfektes Deutsch wiedergegeben, das „Yinglish“ in gebrochenem Deutsch, welches die Übersetzer beeindruckend authentisch getroffen haben. Da jeder von uns irgendwann schon mal jemanden so sprechen gehört hat, ist es förmlich, als könne man seine Stimme hören. Und trotz der Grausamkeit der Erzählungen würde man ihm gern noch viel länger zuhören.

Von Mäusen und Katzen

Neben der persönlichen Geschichte lässt Art Spiegelman die historischen Fakten und Ereignisse keineswegs außen vor – im Gegenteil. Aufwendig hält er die Schilderungen seines Vaters in chronologischer Ordnung und bringt sie in den richtigen Kontext. Den nötigen Abstand, den es braucht, um eine so emotionale, gewaltige Geschichte manifestieren zu können, schafft der Autor in dem er die Protagonisten als Tiere abbildet.

Dass dabei die Darstellung der Nazis als Katzen und der Juden als Mäuse genauso wenig zufällig ist, wie die Auswahl der restlichen Tiere, erkennt man als Leser•in schnell. Die Darstellung der nichtjüdischen Polen als Schweine führte in Polen teilweise sogar zur Verbrennung des Buches. Generell brachte ihm die Veröffentlichung und Vermarktung des Comics nicht nur positives Feedback ein.

Schnell wurden Vorwürfe laut, das Werk sei unsensibel und pietätlos. Spiegelman war vielleicht naiv an die sensible Thematik, diese Geschichte in dieser Form zu veröffentlichen herangegangen, jedoch keineswegs an das Thema an sich. Für ihn war und ist es Teil seiner Familiengeschichte, mit der aufzuwachsen und zu leben auch ihn geprägt hat.

Comics sind die Sprache, in der sich A. Spiegelman ausdrücken kann, in der er Erlebtes und Gefühle transportieren und verarbeiten kann. Entgegen der Meinung mancher Kritiker kann man ihm meiner Ansicht nach zu keinem Zeitpunkt Empathielosigkeit gegenüber den Opfern oder einen leichtfertigen Umgang mit dem Geschehenen vorwerfen.

Als bekennender Comic Fan kann ich auch den Zeichenstil nicht unkommentiert lassen, zumal dieser mich wirklich sehr fasziniert hat. Im typischen Stil eines Underground Comics ist es Art Spiegelman in scheinbar simplen, aber detailreichen Zeichnungen auf geniale Weise gelungen, die komplexen Handlungen zu Papier zu bringen.

Das Repertoire an Charakteren und deren Emotionen ist so vielfältig, wie die Geschichte es verlangt und die zeichnerische Umsetzung ist ebenso feinfühlig wie differenziert.

Mehr als „nur“ ein Lebenswerk

Art Spiegelman hat mit diesem Buch ein Gesamtwerk geschaffen, das ungeahnte Kreise gezogen und eine auch für den Macher selbst völlig unerwartete Reichweite erzielt hat. Diese Graphic Novel bringt nicht nur Comic Fans Geschichte näher, sondern lässt auch Geschichtsinteressierte zum Comicbuch greifen.

„Maus“ wird als zeitloses und enorm wichtiges Stück Erinnerung bestehen bleiben, das zwar die persönliche Geschichte einer einzelnen Person erzählt, jedoch umso deutlicher macht, dass es sich bei dieser nicht um ein Einzelschicksal handelt. Das Buch wird noch Generationen nach uns die Ereignisse in Auschwitz ungeschönt vermitteln und einen einzigartigen Beitrag dazu leisten, dass die Gräueltaten dieser weltgeschichtlichen Epoche niemals in Vergessenheit geraten werden. Und auch bei jedem Einzelnen wird es lange nachhallen.

Cover des Buches "Die vollständige Maus" von Art Spiegelman

Die vollständige Maus

Art Spiegelman

S. Fischer Verlage, 300 Seiten

18,00 Euro

 

Leseprobe

ist Chefredakteurin bei Alerta und seit ihrer Jugend politisch aktiv. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte reichen von der deutschen Vergangenheit bis hin zu politisch progressiven Themen der Gegenwart – sowohl in der Literatur als auch in der Praxis. Die gebürtige Münchnerin liest, schreibt und lebt derzeit im Chiemgau.

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