Nachruf auf eine verlorene Stadt

In dem Roman “Leb wohl, Berlin” verabschiedet sich der britische Autor Christopher Isherwood nicht nur von Berlin, sondern auch von einer Zeit, die durch Hitlers “Machtergreifung” jäh beendet wurde.

Berlin, Herbst 1930. Christopher Isherwood lebt als Untermieter bei Fräulein Schneider in einer Pension. Mit großer Ausführlichkeit beschreibt er nicht nur sie, sondern auch alle anderen Mieter•innen, wie zum Beispiel die Prostituierte Fräulein Kost oder die Nationalsozialistin Fräulein Mayr. Es ist der erste Einblick in die düstere, aber faszinierende Atmosphäre der Jahre der Weltwirtschaftskrise in Berlin.

Isherwood erzählt die Geschichte selbst, auch wenn er sich zu Beginn von dem Protagonisten distanziert. Es ist jedoch offensichtlich, dass tatsächliche Ereignisse die Grundlage für diesen Roman bilden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Personen und Orten, die dem Buch eine natürliche Struktur verleihen.

In den Geschichten herrscht ein Kontrast, der die Welt um Isherwood surreal erscheinen lässt. Er taucht aus den dekadentesten Nachtclubs zurück in die ärmsten Viertel, wo er als „Gentleman“ angesehen wird. Gleichzeitig muss er seine tatsächliche soziale Stellung verbergen, wenn er den Kindern wohlhabender Eltern privaten Englischunterricht erteilt, um seinen Ruf zu schützen.

Der Brite wirkt wie ein Fremdkörper in der Stadt. In manchen Momenten ähnelt er Meursault in Albert Camus‘ „Der Fremde“. Isherwoods Ansatz ist es, wie eine Kamera zu agieren und lediglich zu beschreiben. Selten zeigt er Emotionen oder erklärt im Detail, was er fühlt. Seine Geschichten handeln auch weniger von ihm selbst, als von den Personen, denen er während seines Aufenthalts in Berlin begegnet.

Er genießt die Gesellschaft seiner Bekannten, die später von den Nazis verfolgt werden sollten – darunter Prostituierte, Kommunist•innen, Homosexuelle, sowie Jüdinnen und Juden. Jede Figur steht für eine bestimmte Haltung, die wie ein sich nie lichtender Nebel über dem Land lag: Nazi-Ärzte, die Geisteskranke und Juden beleidigen, Kommunist•innen, die sich auf die bevorstehende Revolution vorbereiten, reiche Familien, die auf den Sieg des Kapitalismus hoffen, und promiskuitive Mädchen, die auf ihren Durchbruch im Showgeschäft warten. 

Ein Mädchen namens Sally

Dies führt zu einer besonderen Freundschaft mit einem Mädchen namens Sally Bowles, einer mittelmäßigen Kabarettsängerin, die auf die nächstbeste Gelegenheit lauert, die neue Marlene Dietrich zu werden. So erlebt sie mehrere „wunderbare“ sexuelle Begegnungen und Enttäuschungen. Isherwood schreckt auch nicht davor zurück, die kostspieligen Schwierigkeiten einer Abtreibung zu beschreiben.

Die Figur der Sally Bowles basiert auf Jean Ross, die mit ihrer Darstellung im Buch nie zurechtkam. Isherwood zeichnet sie als naive, opportunistische Figur, die kein Interesse an den politischen Umständen hat. Ross war genau das Gegenteil: Eine überzeugte Antifaschistin, aber auch lebenslange Stalinistin.

Diese kreative Freiheit rührt daher, dass „Leb wohl, Berlin“ trotz der Bezeichnung zweier Kapitel als „Tagebuch“, ein Roman ist, wenn auch ein autobiografischer. Ähnlich dem Roman „Mr. Norris steigt um“ waren die Geschichten als Teil eines Episodenromans konzipiert, der nie zustande kam. Die Figuren überschneiden sich deshalb in den verschiedenen Büchern Isherwoods.

Jene kreative Freiheit führt auch zu einigen erzwungenen Momenten, in denen der Autor künftige politische Entwicklungen in Deutschland vorwegnimmt. Während der Volksabstimmung über die Auflösung des preußischen Parlaments Anfang August 1931 nimmt Isherwood an einer Gartenparty teil. Er stellt fest, dass „all diese Leute dem Untergang geweiht sind. Dieser Abend ist die Generalprobe für eine Katastrophe. Es ist wie die letzte Nacht einer Epoche“.

Die Katastrophe tritt schließlich im Januar 1933 ein. Isherwood beschreibt die Veränderung des Klimas, die willkürliche Gewalt und die Angst der Menschen. Er weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er und seine Freunde ins Visier der Nazis geraten werden. Im April 1933 beschließt er, Berlin zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. „Leb wohl, Berlin“ ist nicht nur der Nachruf auf eine verlockende Stadt, sondern auch auf eine Ära, die so nicht mehr existierte.

Anmerkung: Die Rezension basiert auf der englischen Originalfassung. Aus dem Buch zitierte Passagen wurden vom Autor übersetzt.

Cover des Buches "Goodbye To Berlin" von Christopher Isherwood

Goodbye To Berlin

Christopher Isherwood

Penguin Books, 272 Seiten

12,59 Euro

ist Chefredakteur und Gründer von Alerta. Sein Interesse gilt insbesondere der linken und antifaschistischen Geschichte und Kultur. Er lebt und schreibt in Saragossa/Spanien.

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