Oxford und die Toryclique

Die britische Politik wird maßgeblich aus Oxford bestimmt, schreibt der Journalist Simon Kuper. Um den Brexit und die aktuelle Toryparty zu verstehen, müsse man auf die Ausbildung der Protagonist•innen schauen.
Die damalige Außenministerin Liz Truss und Premierminister Boris Johnson in New York. Beide studierten zu verschiedenen Zeiten in Oxford.
Foto: UKinUSA/ CC BY-SA 2.0

Was haben Boris Johnson, Theresa May, David Cameron, Michael Gove, Jacob Rees-Moog und Jeremy Hunt gemeinsam? Außer, dass sie Tories sind, gingen sie alle zu einer ähnlichen Zeit auf die ehrenwerte Oxford Universität. Dies ist kaum überraschend, denn zwölf der 16 britischen Premierminister•innen der Nachkriegszeit wurden in Oxford ausgebildet. Was aber sagt das über das politische System des Vereinigten Königreichs aus?

Eine ganze Menge, meint zumindest der Journalist Simon Kuper. In seinem Buch “Chums. How a Tiny Caste of Oxford Tories Took Over the UK” stellt er heraus, dass man den Brexit nur verstehen kann, wenn man genauer betrachtet woher die Protagonist•innen kommen und wie sie ausgebildet wurden.

Sie kennen sich untereinander gut. Zwar hatten sie unterschiedliche Hintergründe, doch gehörten sie alle zu den oberen Gesellschaftsschichten. Oxford war nur eine weitere Station ihres Werdegangs, der schon bei der Geburt feststand. An der Universität perfektionierten sie ihr Handwerk, das sie bereits auf den Privatschulen gelernt hatten, um ihren Sprung in die Politik vorzubereiten. Naiv würde man sie in den Disziplinen Wirtschaft, Jura und Politik denken, doch wer braucht Fakten, wenn man die richtigen Witze reißen kann?

Wer zuletzt lacht

Das akademische Pensum im Oxford der 80er Jahre war erbärmlich und “bullshitting” reichte meistens aus, um die Examen zu bestehen. Es ist überraschend einfach, sich einen nichts wissenden Boris Johnson in einer Prüfung vorzustellen, weil wir ihn nicht anders aus dem Parlament kennen. Sich dennoch durchmogeln zu können, das verdankt er seinen rhetorischen Fähigkeiten, denen er im Oxforder Debattierclub, der Oxford Union, den letzten Schliff verpasst hat.

All die witzigen Kommentare kaschieren die Schwächen des eigenen Arguments beziehungsweise das Fehlen eines Arguments. Außerhalb des Vereinigten Königreiches beherrscht diese Kunst die Madrider Präsidentin Isabel Díaz Ayuso, deren politisches Vokabular auf das Wort “Freiheit” begrenzt ist. Sie schafft es immer wieder, die Opposition mit ihren Reden bis in die Paralyse zu erregen. Dabei ist Ayuso nichts weiter als eine schlechte Stand Up Comedienne, die Zwischenrufe antizipiert, um die eigentliche Pointe zu liefern. Dann wendet sie sich dem nächsten Witz zu, als ob nichts geschehen wäre.

Die Torykaste funktioniert ganz ähnlich. Im Zuge des “Party Gate” befragte eine Oppositionspolitikerin im House of Commons, wie es sein kann, dass die Regierung Gegenstand einer polizeilichen Untersuchung ist, wo doch behauptet wurde, dass man keine Regeln gebrochen habe. Dabei erwähnte sie unter anderem den “Kuchenvorfall”, in dem Premierminister Boris Johnson mit einem Kuchen und einer Party während des Lockdowns überrascht worden sei. Die Tories erklärten später, von der Party nichts gewusst zu haben.

Die Nachfragen im Parlament nahm Jacob Rees-Mogg als Anlass, die Opposition lächerlich zu machen. Sie seien besessen von Kuchen, und bald werde man fragen, ob der Kuchen mit Eiern oder schwammig gewesen sei. Die Lacher, die er von der Regierungsbank kassiert, sind die eigentliche Grenze des konservativen britischen Establishments. Sie sind undurchdringbar. Wer es versucht, wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Die upper-class kann sich alles leisten.

Oder fast alles. Der Unwissenheit kaschierende Witz funktioniert nur, wenn einem die Gegner•innen leichtes Spiel machen. Der Brexit hat jedoch gezeigt, dass auch der witzigste Kommentar seine Wirkung verfehlt, wenn man es mit versierten Anwält•innen zu tun hat, die den Brexit auf ihre Art durchbringen wollen. Dass Boris Johnson das Nordirland-Abkommen, das er verhandelt und unterschrieben hat, selbst nicht versteht, ist daher kaum überraschend. Auch kann man sich nicht aus einer Pandemie heraus witzeln.

Während die britische Bevölkerung zu Hause blieb und Beerdigungen ihrer Angehörigen verpasste, feierte Downing Street 10 ausgiebige Partys. Johnsons “Bullingdon-Ethos hatte intakt überlebt, seine Wahrheit wurde durch seinen Lebensweg bestätigt: Die Regeln gelten nicht für unsere Klasse”, schreibt Kuper im Buch. Mit anderen Worten: Man ist in der Vergangenheit damit durchgekommen – warum nicht auch jetzt?

Oxford und Brüssel

Auch der Brexit wurde in Oxford vorbereitet. Der damalige Student Daniel Hannan ist der geistige Vater des Brexits. Inspiriert von Thatchers Euroskeptizismus und britischen Nationalismus half er 1993 eine geheime Parlamentsgruppe innerhalb der Tories mit dem Namen “European Research Group” (ERG) zu gründen. Hannans Aufgabe bestand darin, sämtliche europäischen Verträge und Gesetzgebungen zu untersuchen, um so Argumente gegen die Europäische Union zu formulieren. Später wurde er einer der Gründer der “Vote Leave” Kampagne.

Es war dabei völlig irrelevant, welche Folgen der Brexit für das Vereinigte Königreich haben könnte. Kuper attestiert der Oxforder Torykaste eine Sehnsucht nach einer nationalen Tragödie, in der sie sich profilieren könne. Jegliche negative Konsequenzen hätten sie sowieso nicht auszubaden. Zwar gab es mit David Cameron und Theresa May prominente Remainer, doch es war Cameron der das Referendum als Premierminister durchführen ließ, in dem naiven Glauben, dass das rechte und linke Establishment, wie etwa beim Irakkrieg, zusammenhalten würde.

“Der Brexit”, schreibt Kuper, “wurde als eine anti-elitäre Revolte bezeichnet. Genauer gesagt, war es eine anti-elitäre Revolte, die von einer Elite angeführt wurde.” Damit hatten Boris Johnson und Michael Gove, neben persönlichen Gründen, ein von Cameron geführtes Projekt abzulehnen, ihre nationale Tragödie.

Geschärfter Blick

Leitete Johnsons Rücktritt das Ende der konservativen Oxfordkaste ein? Mitnichten. Die voraussichtliche Premierministerin Liz Truss ist ebenso in Oxford ausgebildet worden wie ihr parteiinterner Gegenkandidat Rishi Sunak. In einem Video von 2007 sagt Sunak, dass er keine Freunde aus der Arbeiter•innenklasse habe. Im Laufe des parteiinternen Wahlkampfes erklärte er, dass es “dumm” von ihm war, so etwas zu sagen. Das Klassendenken der Toryelite bleibt sichtbar intakt.

Am Tag, als ich Simon Kupers “Chums. How a Tiny Caste of Oxford Tories Took Over the UK” ausgelesen hatte, stolperte ich über einen Artikel im britischen Guardian. Kurz vor seinem Amtsende ernannte Boris Johnson den Journalisten Harry Mount zu einem Mitglied der House of Lords Appointment Commission. Dank eines geschärften Blickes durch Kupers Buch fielen mir sofort die biographischen Daten des Journalisten ins Auge: Akademische Ausbildung in Oxford, Mitglied im Bullingdon-Club, dem Oxforder Eliteclub, dessen Mitglieder auch Boris Johnson und David Cameron waren. Nach dem Abschluss ging Mount in den Journalismus, der für Torygrößen vor ihrem Sprung in die Politik eine ergiebige Zwischenstation darstellt.

Fast schon als Pointe mutet die von Mount geschriebene Biographie über den ehemaligen britischen Premierminister an: “The Wit and Wisdom of Boris Johnson”. Wie der Name erahnen lässt, ist es ein sehr kurzes Buch.

Cover des Buches "Chums. How a Tiny Caste of Oxford Tories Took Over The UK" von Simon Kuper

Chums. How a Tiny Caste of Oxford Tories Took Over the UK

Simon Kuper

Profile Books, 231 Seiten

£16.99

ist Chefredakteur und Gründer von Alerta. Sein Interesse gilt insbesondere der linken und antifaschistischen Geschichte und Kultur. Er lebt und schreibt in Saragossa/Spanien.

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