Gitanos (Calé) – Die Leidens- und Erfolgsgeschichte der spanischen Roma

Bei der Emanzipation seiner Roma-Minderheit kann Spanien Fortschritte vorweisen wie kaum ein anderes Land. Doch der Weg ist noch weit.
Die Madrider Verbände der Gitanos übergeben eine Fahne der Roma an die Beauftragte für Geschlechter- und Diversitätspolitik (2018).
Foto: Diario de Madrid, CC BY 4.0

Dieser Artikel wird in Zusammenarbeit mit dROMa veröffentlicht. Die Ausgabe 69 hatte „Spanien“ als Thema.

Bis zur zur Osterweiterung 2004 war Spanien das EU-Land mit der größten Roma-Bevölkerung: An die 750.000 Personen zählt die Volksgruppe der Gitanos* oder Calé (selten auch: Kalé), die über das ganze Land verteilt lebt, der größte Teil in Andalusien (ca. 40%), in Katalonien, Madrid oder Valencia. Schon vor 600 Jahren gelangten die ersten Roma-Gruppen von Norden, über die Pyrenäen, auf die Iberische Halbinsel. Wissenschaftliche Spekulationen, wonach die Vorfahren der Gitanos sehr früh eine andere Wanderroute als die europäischen Roma eingeschlagen hätten und über Nordafrika nach Spanien gezogen seien, gelten als veraltet.

Seither glich die jahrhundertelange Geschichte der Gitanos in Spanien einem Wechselbad von Zwangsassimilation und Verfolgung. Ab 1499 wurden ihnen sukzessive ihre Gewerbe und Lebensweise, ihre Sprache, Kleidung, Namen und Bräuche verboten. Es drohten Verbannung, Versklavung und Galeerendienst.

Die Große Razzia

Später folgte sogar der Versuch ihrer physischen „Auslöschung“: Bei der „Gran Redada“, der „Großen Razzia“, wurden 1749 rund drei Viertel aller Gitanos zusammengetrieben und – nach Geschlechtern getrennt – über Jahre eingekerkert. Das Vernichtungsprojekt scheiterte, doch die Folgen für die ethnische Gruppe, die zuvor schon fast zur Gänze sesshaft gelebt hatte, waren verheerend. Nunmehr waren die Gitanos, deren Häuser und Besitz beschlagnahmt worden waren, verarmt, die inneren Strukturen der Gemeinschaft weitgehend zerstört.

Die folgende Assimilierungspolitik zielte darauf ab, die ethnische Identität zum Verschwinden zu bringen. Die Repressionen und die gegen Gitanos gerichtete Politik dauerten an und reichten bis in die 1970er Jahre. Erst mit dem Ende der Franco-Diktatur sollte sich die Lage der Minderheit grundlegend ändern.

"Modell Spanien"

So begann man erst vor rund vierzig Jahren, die Eingliederung der Gitano-Kinder in das Bildungsssytem voranzutreiben. Die Fortschritte, sie seither erzielt wurden, sind beachtlich. Dass längst alle Gitano-Kinder die Grundschule, die meisten sogar Vorschulklassen besuchen, war vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar. Auch das Bildungsbewusstsein der Eltern ist gewachsen: 95% der Gitanos betrachten eine Umfrage zufolge Bildung als wichtige Voraussetzung für Erfolg. Diese Ergebnisse machen Spanien in den Augen vieler Experten zu einem Modell.

Doch die Bildungskluft zwischen Mehrheit und Minderheit bleibt weiterhin riesig: Sehr viele brechen die Schule mit 15 oder 16 Jahren ab. Sechs von zehn jungen Erwachsenen haben keinen Pflichtschulabschluss, fast fünfmal so viele wie in der Gesamtbevölkerung. Nur wenige, und da vor allem Mädchen, setzen ihren Bildungsweg auch noch nach der Pflichtschule fort. Gerade mal ein Zehntel der 17-Jährigen besucht eine Oberstufe.

Auch bei der Wohnsituation ist man weit gekommen. Die einstigen Armutssiedlungen wurden geräumt und neuer Wohnraum geschaffen – oftmals jedoch um den Preis, dass Communitys auseinandergerissen wurden. 93 Prozent aller Gitanos leben heute in Standardwohnungen – wie alle anderen auch. 1991 betrug der Anteil in desolaten Wohnverhältnissen oder in Slums noch fast ein Drittel. Inzwischen sind es nur noch 8,6 Prozent. Aber bis heute sind die Barrackensiedlungen nicht ganz aus den Städten verschwunden. In 270 Siedlungen leben immer noch 11.000 Gitanos. Am Ende der Franco-Zeit waren es allerdings noch drei Viertel der Gitano-Bevölkerung.

Erfolg und Gewalt

Fortschritte gibt es auch im Berufsleben. Die Erwerbsquote von Gitanos ist sogar höher als der Landesschnitt (weil junge Gitanos sehr früh in den Arbeitsprozess eintreten, um ihre Familien zu unterstützen), allerdings ist die Arbeitslosigkeit dreimal so hoch – eine Folge von Bildungsdefiziten und Diskriminierung am Arbeitsmarkt. Nach wie vor leben viele Familien vom fahrenden Gewerbe, insbesonders als Marktfahrer, einer Branche, die nicht erst durch die Pandemie unter Druck geraten ist. Heute finden sich aber Angehörige der Volksgruppe in allen Berufssparten, auch im akademischen Bereich. Und von Jahr zu Jahr wächst die – noch immer geringe – Zahl der Studierenden an den Universitäten.

Diese Erfolge sind eingebettet in den Demokratisierunsprozess Spaniens – und sie sind nicht zuletzt auch das Resultat der aktiven politischen Rolle der Gitanos selbst. In den Reihen aller landesweiten Parteien (mit Ausnahme von Vox) gibt es Mandatarinnen und Mandatare aus der Volksgruppe – vier sind es derzeit im Parlament.

Dieser positiven Sichtbarkeit der Minderheitstehen jedoch alte Vorurteile, Rassismus und Ablehnung gegenüber, nach der Jahrtausendwende neu angefacht durch die Debatten über Armutsmigration aus Osteuropa. Gewalt und Pogrome gegen Gitanos gibt es bis in die Gegenwart, etwa in Estepa (2015), Fortuna (2017), Santurtzi (2018), La Llagosta (2018), Vallecas (2019) oder Peal de Becerro (2022). Immerhin trat im Vorjahr eine Gesetzesnovelle in Kraft, die „Antiziganismus“ als Sonderform des Rassismus eigens erfasst. Tätern drohen nun Strafen von bis zu 500.000 Euro.

*Der Autor verwendet den Begriff „Gitanos“, da es sich hierbei um die Selbstbezeichnung der spanischen Roma handelt. Im europäischen Kontext wird gerne auch von romaní gesprochen.

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