Hegemonie und das Spiel mit der Freiheit

Das Thema „Freiheit“ ist in aller Munde und wird gerne als Totschlagargument verwendet, um progressive Ideen abzuwerten. Doch der Erfolg dieser Rhetorik geht nur aufgrund der neoliberalen Hegemonie auf.
Markus Söder (CSU) beherrscht die radikal neoliberale Rhetorik. Der politische Gegner wird als totalitärer Spaßverdeber geframed.
Foto: Mueller/MSC (CC BY 3.0 DE)

In Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Unruhen könnte man sich wenig darum scheren, was in den Schulen gelehrt wird oder ob das öffentlich-rechtliche Fernsehen „woke“ geworden ist. Und doch sind die Medien in der westlichen Welt voll von hitzigen Debatten über J.K. Rowlings Haltung zu Transfrauen, die angeblich links-grüne Berichterstattung bestimmter Medien oder feministischer Bildung, wie etwa in Spanien. All dies sind Schlachten, die in einem verzweifelten Kulturkrieg ausgefochten werden, dessen Gewinner eines der mächtigsten Werkzeuge der Menschheitsgeschichte übernehmen wird: Hegemonie.

Dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zufolge ist Hegemonie intellektuelle und moralische Führung. Er argumentiert, dass politische Macht ohne Hegemonie sehr wenig wert ist. Tatsächlich sollte jede Gruppe, die die Macht an sich reißen will, zunächst darüber nachdenken, wie sie die Hegemonie erlangen kann. Letztlich ermöglicht die Hegemonie eine überlebenswichtige Manipulation der öffentlichen Meinung, und ihre Macht beruht auf der Kontrolle des vorherrschenden Narrativs. Sie ist der Grund, warum politische Systeme überhaupt bestehen können.

Hegemonie in der Geschichte

Das Nationbuilding im 19. Jahrhundert kann nicht verstanden werden, ohne den Aufwand zu berücksichtigen, der betrieben wurde, um die Hegemonie zu erlangen und zu verteidigen. Die Franzosen erneuerten das Bildungssystem und entrissen es dem Klerus, und der Protestant Otto von Bismarck führte einen Kulturkampf mit der katholischen Kirche. Die kulturelle, soziale und intellektuelle Vorherrschaft definiert und legitimiert einen Staat und sein Handeln. Die Zweite Spanische Republik (1931-39) scheiterte, weil es ihr nicht gelang, die Hegemonie zu erlangen. Die republikanischen Reformen wurden unschädlich gemacht, bevor sie ihre Wirkung entfalten konnten.

General Franco hingegen legte großen Wert auf die Erlangung der Hegemonie, indem er im Spanischen Bürgerkrieg (1936-39) den liberalen und linken Widerstand niedermetzelte. „Wer Herr über eine Stadt wird, die an die Freiheit gewöhnt ist, und sie nicht zerstört, kann damit rechnen, von ihr zerstört zu werden; denn eine solche Stadt kann immer eine Rebellion im Namen der Freiheit und ihrer alten Institutionen rechtfertigen“, bemerkte Niccolò Machiavelli, und Franco nahm ihn ziemlich erfolgreich beim Wort: Er starb 36 Jahre nach seiner Machtübernahme als unangefochtener Caudillo von Spanien. Francos Verständnis von Spanien beeinflusst das Land bis heute, so stark war seine Hegemonie. 

Dies sind nur einige Beispiele aus der neuesten Geschichte. Der britische Historiker Dominic Sandbrook argumentiert, dass es in der Politik ausschließlich um „Kulturkriege“ und das Streben nach Hegemonie geht. Es geht um „Geschichte, Identität, Nationalität und Zugehörigkeit“, auch bekannt als Identitätspolitik, ein Schimpfwort in der konventionellen politischen Sphäre. Die traditionelle Linke sieht darin lediglich eine Ablenkung von den Problemen der realen Welt, und die konservativen, radikalen Neoliberalen fürchten die Aufzwingung einer Minderheitenerzählung, die sie wissentlich falsch als „Sozialismus“ oder „Kommunismus“ bezeichnen.

Freiheit als Verteidigung des Privilegs

Niemand hat das so deutlich gemacht wie die Madrider Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso der konservativen “Partido Popular”. Sie führte im Frühjahr 2021 einen Wahlkampf mit dem Slogan „Freiheit oder Kommunismus“, einer leicht abgewandelten Formulierung, die 1976 von der CDU verwendet wurde. So einfältig die Formulierung auch sein mag, sie traf einen Nerv und sicherte ihr einen Erdrutschsieg bei den Regionalwahlen. Geplagt von den COVID-Beschränkungen, die von der mitte-links Zentralregierung auferlegt wurden, rühmte Ayuso Madrid als die Stadt der Freiheit, in der es weniger Beschränkungen gab. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie radikale Neoliberale den politischen Gegner in ein Schema pressen und Rosa Luxemburgs Satz „Sozialismus oder Barbarei“ praktisch auf den Kopf stellen. Das Framing ist raffiniert und wirkungsvoll, denn niemand, der bei Verstand ist, würde sich gegen „Freiheit“ aussprechen.

Die von den radikalen Neoliberalen angestrebte Freiheit ist jedoch rücksichtslos und menschenfeindlich. Sie lässt sich grob mit einem wirtschaftlichen Sozialdarwinismus und einem „Recht des Stärkeren“ übersetzen, das eindeutig diejenigen begünstigt, denen es ohnehin schon besser geht als dem Rest. Das Narrativ „Steuern sind Raub“ mag auf den ersten Blick verlockend erscheinen, verwandelt sich aber in einen lebensbedrohlichen Alptraum, sobald das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem demontiert und in Schutt und Asche gelegt sind. Der Wert als menschliches Wesen wird nur noch in wirtschaftlicher Hinsicht auf einem riesigen freien Humanmarkt voller verzweifelter Konkurrent·innen gemessen. Wer nicht mithalten kann, wird wie menschlicher Abfall aussortiert.

Aber natürlich geht es nicht nur um Steuern. In Deutschland haben Debatten über Tempolimits auf der Autobahn die Nation in mündige Bürger•innen und selbsternannte Freiheitskämpfer•innen gespalten. „Wir lassen uns von den Grünen nicht umerziehen, was unsere Sprache und Kultur angeht“, sagte Bayerns Präsident Markus Söder beim diesjährigen Politischen Aschermittwoch. „Grün bedeutet Verbot“, so Söder weiter. Seine Argumentation ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Darstellung des Feindes als moralisch-totalitärer Spielverderber Hand in Hand geht mit der Selbstdarstellung als glühender Freiheitskämpfer. Man ist entweder für sie oder gegen sie. Dies ist der Kulturkampf, und zum Leidwesen der Progressiven schließt sich ein großer Teil der Bevölkerung der Armee der radikalen Neoliberalen an. 

Die offensichtliche Frage ist: Warum? Wenn die Bürger·innen nicht von der Rhetorik und Politik profitieren, warum unterstützen sie dann die radikalen Neoliberalen? Die Antwort lautet: Hegemonie. Radikale Neoliberale können ihre Narrative in der Politik, in den Medien, in Schulen und Institutionen platzieren, und das glänzende Licht, das ihre Version von Freiheit ausstrahlt, blendet die Menschen. Wenn man ständig demselben Narrativ ausgesetzt ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man es als Norm akzeptiert, ziemlich hoch. Jede·r, der/die versucht, diese Norm zu ändern, kann als jemand hingestellt werden, der die Freiheit abschaffen will. Radikale Neoliberale machen sich dies zunutze, indem sie sagen, dass die Menschen es leid sind, sich vorschreiben zu lassen, was sie tun, fühlen oder sagen sollen. Viele stimmen dem zu. Es ist ein allumfassendes Narrativ, das sie geschaffen haben. 

Es geht dabei ebenso sehr um Kultur wie um Steuern, Sozialpolitik und Geschichte, und ihre gründliche Reflexion kann zu unbequemen Ergebnissen führen. Haltungen, die vor einigen Jahrzehnten noch die Norm waren, haben sich als problematisch herausgestellt: Die Wiedergabe des N-Wortes, das Anpöbeln von Frauen oder noch schlimmer: das Begehen von Sexualdelikten. Rassismus und Sexismus sind inakzeptabel und müssen aus der Gesellschaft verschwinden. Doch die radikalen Neoliberalen haben einen Trumpf im Ärmel und verkaufen den Kampf gegen Rassismus und Sexismus als kommunistischen Kreuzzug gegen die Freiheit. Ernsthafte und wichtige Debatten verkommen zu Scheindebatten, die wissentlich am Thema vorbeigehen und kritische Anliegen ins Lächerliche ziehen. Die Medien springen sensationsgeil auf den Zug auf und wählen je nach Zielgruppe eine Seite aus. 

Klassenkampf und Medien

In diesem Moment betritt die traditionelle Linke den Raum und fragt bitterlich: „Gibt es nicht ernstere Themen, die diskutiert werden müssen?“ Fragen zur Identität sind für sie von trivialer Bedeutung, da sie sich mehr um die sozioökonomische Lage der Menschen sorgen. Diese Gruppen negieren die Bedeutung von Emotionen und Identität im politischen Diskurs, die jedoch alle Gesellschaftsschichten durchdringen. Eine POC erfährt Rassismus unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Selbst in linken Parteien sind Frauen nicht vor Sexismus sicher, wie „Die Linke“ unrühmlich gezeigt hat. Es ist naiv, etwas anderes anzunehmen. Klassenpolitik alleine hat keinen wesentlichen Einfluss auf die Hegemonie und findet daher größtenteils außerhalb der Realität der Mehrheit statt.

Es gibt linke Politiker·innen und Aktivist·innen, die die Bedeutung der Hegemonie erkannt haben. Der Spanier Pablo Iglesias schrieb bereits 2014, dass es für den Erfolg linker Narrative und Parteien entscheidend ist, den Kulturkampf auf dem medialen Schlachtfeld zu gewinnen. Leider besteht seine Idee, den sogenannten Mainstream-Medien entgegenzutreten, meist darin, das gängige Narrativ unverhohlen umzudrehen, anstatt sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Seine Logik folgt einem einfachen Mechanismus: Die Hegemonialmächte reden in erster Linie, um ihre Position zu verteidigen und auszubauen, und können daher nur Lug und Trug produzieren.

Das vielleicht größte Problem von allen ist, dass es im aktuellen Kulturkrieg nicht so sehr um die überholten Kategorien links und rechts geht. In diesem Krieg werden viele verschiedene Schlachten geführt, und die Soldat·innen wechseln die Seiten, wie sie es für richtig halten. Ein überzeugter Antirassist und Antifaschist mag die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache ablehnen. Man ist selten ein Archetyp, sondern ein scheinbar individuell wandelnder Widerspruch. Ich will nicht so tun, als wüsste ich die Antwort, wie man dieses Thema angehen kann. Es gilt jedoch zu erkennen, wie mächtig und wirkungsvoll das Konzept der Hegemonie ist. Es ist an der Zeit, dass die Progressiven ihre selbstbewussten Stimmen finden, um der radikalen neoliberalen Hegemonie etwas entgegenzusetzen.

ist Chefredakteur und Gründer von Alerta. Sein Interesse gilt insbesondere der linken und antifaschistischen Geschichte und Kultur. Er lebt und schreibt in Saragossa/Spanien.

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Max Brym war in seinem Leben DKP-Kader, Maoist und Trotzkist. Nicht umsonst war er in seiner bayerischen Heimat als "Roter Max" verschrien. Im Alerta Gespräch erzählt er über sein Leben und sein Buch über seine Zeit als Maoist.